Die Invasion in den Irak 2003 ist der Ursprung des Terrors in Nahost – so lautet der Vorwurf an die USA. Doch wie sähe die Region heute aus, wäre der Diktator nicht gestürzt worden? Ein Gedankenspiel.
So sieht der Sieg aus: Saddam reckt seine bronzene Hand zum Himmel und grüßt sein Volk, seine metallenen Augen blicken über Bagdad. Doch zu Füßen der gewaltigen Statue in der irakischen Hauptstadt toben Hunderte Menschen. Ein Mann in Trägerhemd wuchtet einen Vorschlaghammer gegen den Betonsockel. Zwölf Meter weiter oben legt ein Marine die US-Flagge über den Kopf des gestürzten Diktators.
„Nein, weg, das ist falsch“, brüllt der Mann im Trägerhemd herauf. Der Regimegegner Kasim al-Dschaburi, der mehr als 21 Jahre in Saddams Gefängnissen saß, wollte die irakische Flagge dort oben sehen. So erzählte er es der Zeitung „al-Quds al-Arabi“. Und überhaupt: Wenn es die Statue heute noch gäbe, dann würde er sie persönlich wieder aufstellen. „Unter Saddam hatten wir Sicherheit, Wasser, Strom und Gas. Heute herrschen Diebstahl, Mord, Raub und Gewalt zwischen Sunniten und Schiiten.“
In Amerika kommen heute selbst manche Veteranen, die damals dabei waren, zu diesem Schluss. Seit sich die Bundeswehr auf einen Einsatz in Syrien vorbereitet, beschwören auch Deutsche das Beispiel des Irakkriegs 2003 – weil sie darin die Ursache für alles Chaos von heute sehen. Kein westlicher Krieg seit dem Fall der Mauer wird so heftig kritisiert wie die US-geführte Invasion im Irak.
Sind die USA wirklich schuld am Aufstieg des IS?
Es gab kein Mandat des UN-Sicherheitsrates für den Einsatz, die Regierung von George W. Bush behauptete, Saddam besitze Massenvernichtungswaffen und paktiere mit al-Qaida, konnte beides aber nie beweisen. Saddam war nach der Invasion weg, aber das Blut floss zwischen den islamischen Konfessionen – und so ist es heute wieder, vier Jahre nachdem die US-Armee abgezogen ist.
Jetzt kommt ein weiterer Vorwurf dazu: Das Chaos, das die USA im Irak schufen, habe den Bürgerkrieg im benachbarten Syrien erst zu seinen heutigen Terrorexzessen geführt. Denn die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) begann als irakischer Ableger von al-Qaida – unter US-Besatzung. Wäre der Nahe Osten in besserem Zustand, wenn Saddam an der Macht geblieben wäre? Wer wissen will, was ohne die Invasion geschehen wäre, muss in die Zeit davor blicken.
Wilfried Buchta lebte als politischer Analytiker der UN sechs Jahre im amerikanisch besetzten Irak. Aber der Islamwissenschaftler kennt das Land seit 1990. Schon lange vor der US-Invasion sei der irakische Staat durch Saddams Politik erodiert. Der Krieg gegen den Iran in den 80er-Jahren, die erfolglose Invasion in Kuwait, der Gegenschlag der USA und die anschließenden Sanktionen – all das habe die Modernisierungspotenziale der irakischen Wirtschaft verheizt, aber auch Saddams Herrschaftslegitimation zerstört: den irakischen Baathismus.
„Diese Mischung aus sozialistischen Elementen und dem Anspruch, die arabische Welt notfalls mit Gewalt zu einigen, hatte jede Zugkraft verloren“, sagt Buchta. Den Volksaufstand 1991 konnte Saddam nur mit äußerster Brutalität niederschlagen. Der Sunnit, der über ein mehrheitlich schiitisches Land herrschte, musste sich eine neue Machtbasis schaffen: Er stützte sich stärker auf die sunnitischen Stämme, ließ Moscheen bauen und sich Blut abzapfen, mit dem Korane geschrieben wurden.
Doch in weiten Teilen des Landes hatte er keinen Einfluss mehr: im Norden, wo eine Flugverbotszone der Amerikaner die Kurden vor Saddams Bombardements schützte, und im Süden, wo die Schiiten sich ihrer benachbarten Schutzmacht Iran immer mehr annäherten. Eine seltsame Mischung aus Verzweiflung, Mord und Frömmigkeit lag über dem Land.
Der „arabische Frühling“ hätte im Irak keine Chance gehabt
Was, wenn es nach 2003 so weitergegangen wäre? „Saddam hätte sich noch einige Jahre an der Macht halten können“, meint Buchta. „Die Sanktionen bröckelten schon, Nachbarstaaten näherten sich wieder an. Aber seinen Einfluss bei Kurden und Schiiten hätte Saddam nicht wiedergewonnen.“ Das wahrscheinlichste Szenario hätte so ausgesehen: Der Staat zerfällt immer weiter. Das Regime verwaltet Mangel und Gewalt. Bis zu eine Million seiner Bürger hat Saddams Regime bis 2003 exekutiert, verschleppt, in Gasangriffen getötet. Nun sterben noch mehr.
Der Hass zwischen Schiiten, Sunniten und Kurden wächst. Saddam ist schon weit über 70 Jahre alt, als der „arabische Frühling“ kommt und Menschen gegen ihre Herrscher auf die Straße gehen. Seine Söhne Udai und Kusai gelten als brutal, ihre politischen Qualitäten sind jedoch ungewiss. In der Welle von Rebellionen, die 2011 durch den Nahen Osten rollt, ist dieses Regime extrem gefährdet.
Wilfried Buchta lebte als politischer Analytiker der UN sechs Jahre im amerikanisch besetzten Irak. Aber der Islamwissenschaftler kennt das Land seit 1990. Schon lange vor der US-Invasion sei der irakische Staat durch Saddams Politik erodiert. Der Krieg gegen den Iran in den 80er-Jahren, die erfolglose Invasion in Kuwait, der Gegenschlag der USA und die anschließenden Sanktionen – all das habe die Modernisierungspotenziale der irakischen Wirtschaft verheizt, aber auch Saddams Herrschaftslegitimation zerstört: den irakischen Baathismus.
„Diese Mischung aus sozialistischen Elementen und dem Anspruch, die arabische Welt notfalls mit Gewalt zu einigen, hatte jede Zugkraft verloren“, sagt Buchta. Den Volksaufstand 1991 konnte Saddam nur mit äußerster Brutalität niederschlagen. Der Sunnit, der über ein mehrheitlich schiitisches Land herrschte, musste sich eine neue Machtbasis schaffen: Er stützte sich stärker auf die sunnitischen Stämme, ließ Moscheen bauen und sich Blut abzapfen, mit dem Korane geschrieben wurden.
Doch in weiten Teilen des Landes hatte er keinen Einfluss mehr: im Norden, wo eine Flugverbotszone der Amerikaner die Kurden vor Saddams Bombardements schützte, und im Süden, wo die Schiiten sich ihrer benachbarten Schutzmacht Iran immer mehr annäherten. Eine seltsame Mischung aus Verzweiflung, Mord und Frömmigkeit lag über dem Land.
Die Anfänge des Desasters
Video im Originalartikel an sehen…Quelle ist unterhalb des Artikels gekennzeichnet
„Einen ,arabischen Frühling‚ wie in Tunesien oder Ägypten, mit friedlichen Demonstrationen, Twitter und Facebook – das hätte es im Irak nicht gegeben“, sagt Buchta. „Jeder Aufruhr wäre sofort in einen Bürgerkrieg übergegangen. Für alles andere waren nach den Hunderttausenden von Toten einfach zu viele Rechnungen offen.“
Hätte unter Saddam eine extremistische Sekte wie der IS expandieren können? Buchta bezweifelt das. „Saddam hatte die Salafisten in seinem Land vereinnahmt und so gründlich unterwandern lassen, dass sie kein eigenständiger Machtfaktor geworden wären“, sagt er. Dass der IS so stark geworden sei, erkläre sich zum Teil aus dem Sturz des Diktators und der Politik der Besatzer: „Erst nachdem die Amerikaner Saddams Partei- und Militärkader marginalisiert hatten, wendeten die sich ihren alten Bekannten beim IS zu und brachten entscheidenden militärischen Sachverstand mit.“
Amerikas Verantwortung für das Entstehen des IS ist in Washington auch eine parteipolitische Frage. Der demokratische Terrorexperte Bruce Riedel hält die Sache für eindeutig: Ohne den Krieg George W. Bushs wäre der IS nie entstanden. „Es gab al-Qaida im Irak nicht, bevor Bush 2002 öffentlich begann, die Invasion vorzubereiten“, sagt Riedel, der zu Bill Clintons Nationalem Sicherheitsteam gehörte und bei der CIA gearbeitet hat. „Al-Qaida im Irak, die Vorgängerorganisation des IS, ist eine Kreatur von Bushs Irakkrieg.“
Andere sehen es differenzierter. Für Bruce Hoffman von der Georgetown University, einen der führenden US-Terrorforscher, beginnt die Vorgeschichte des IS schon unter Saddam. Der einstige Al-Qaida-Chef im Irak, Abu Musab al-Sarkawi, habe schon vor den Anschlägen des 11. Septembers mit seinen Anhängern in Afghanistan trainiert.
Konservative suchen die Schuld bei Barack Obama
Und noch unter Saddam habe die Gruppe im Niemandsland zwischen dem Regime und der Kurdenregion im Norden operiert. „Die Invasion im Irak hat Sarkawi dann die Gelegenheit gegeben, wichtig zu werden“, sagt Hoffman.
Konservative wie Eliott Abrams hingegen wälzen die Schuld für das Wiedererstarken des IS auf Barack Obama ab. „Als George W. Bush im Januar 2009 das Amt verließ, hatte die Truppenaufstockung Erfolg gehabt, es gab keinen IS mehr“, sagt er. „Der IS ist ein Phänomen der Obama-Ära.“ Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte. Bushs Irakkrieg hat den Aufstieg von Sarkawis Terrorgruppe befördert und ihre Verwandlung in den IS. Obamas verfrühter Abzug aus dem Irak 2011 hat später die schnelle Ausbreitung der Terrorgruppe ermöglicht.
Ein entscheidender Faktor in der Politik der Großmächte wäre ohne Bushs Irakkrieg anders gewesen: die Wahl seines Nachfolgers. Hillary Clinton oder John McCain hätten weitaus höhere Chancen gehabt, ins Weiße Haus einzuziehen. Denn Obamas Sieg speiste sich zu einem wichtigen Teil aus der Kriegsmüdigkeit der Amerikaner, aus dem Chaos, das Bush im Irak angerichtet hatte.
Stellen wir uns also vor, der „arabische Frühling“ erreicht im Frühsommer 2011 auch den Irak. In Basra im Süden rebellieren die Schiiten, Saddam lässt Aufständische in den schiitischen Armenvierteln in Bagdad mit brutaler Gewalt töten. Amerika und die EU fordern seinen Rücktritt, während die Russen versuchen, ihren alten Klienten zu stützen.
Die Fronten wären noch unklarer als in Syrien
Die Saudis sind keine Freunde Saddams, aber sie machen sich Sorgen, dass sein Land in die Hände der schiitischen Mehrheit fallen könnte und in den Einflussbereich des Iran gerät, deswegen unterstützen sie die sunnitischen Stämme, die für den Diktator kämpfen. Teheran unterstützt die Schiiten, trainiert schiitische Milizen und schickt Einheiten der Revolutionsgarden – so wie heute in Syrien.
Das alles kommt jetzt auf die Bundeswehr zu
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Gruß an das Irakische Volk
TA KI