Germanentum
Die germanische Ursprungssage
Geschrieben von: Prof. Gustav Neckel |
Eine der merkwürdigsten Stellen bei Tacitus, viel berufen und noch neuerdings von klassisch-philologischer Seite aufs gründlichste behandelt, ist die über die Tradition der Germanen betreffs ihrer eigenen Herkunft. Der Schriftsteller führt diese Tradition als den Inhalt alter Gedichte ein, und er gibt sie als selbständiges, abgerundetes Ganzes. Schon Plinius hat sie gekannt, aber dieser, auf Einzelheiten und Namen erpicht und ohne Sinn für Komposition, teilt nur Bruchstücke daraus mit und verquickt sie mit anderer Kunde zu einem künstlichen und unklaren Zusammenhang. Tacitus schöpft also hier gewiß nicht aus Plinius. Nach E. Norden ist seine Quelle der Grieche Timagenes, der im letzten Jahrhundert vor Christus geschrieben hat. Diesem hätten wir also in erster Linie zu danken für die offenbar treue Wiedergabe des germanischen Überlieferungsstückes.
Die Echtheit erhellt schon aus dem Namen: der im Anfang der Zeiten aus der Erde hervorgegangene Gott „Twisto“ (oder „Twisko“) hatte den Sohn „Mannus“ und dieser wieder drei Söhne, von denen abstammen und nach denen benannt sind die „Ingvaeonen“ am Ozean, die „Herminonen“ im Binnenlande und die „Istvaeonen“ (die nach Plinius dem Rhein zunächst saßen). Der Name des göttlichen Stammvaters gehört zu „Zwist“ oder zu „zwischen“ und bezeichnet ihn in jedem Falle als den „Doppelten“ oder „Zwiegeschlechtigen“, der imstande ist, ohne Frau einen Sohn zu zeugen. Dieser heißt „Mannus“, d. i. „Mann“ oder „Mensch“. Seine Söhne werden uns nicht benannt, aber die als Ableitungen auftretenden Völkernamen sind deutlich germanische Patronymica; sie bedeuten „Die Nachkommen des Ingwjo“ usw. ![]() Tacitus
Die Echtheit der Überlieferung geht ferner hervor aus ihrer Übereinstimmung mit germanischen Quellen. Diese liefern uns einerseits zwei Gegenstücke zu dem Ganzen mit anderen Personen1, andererseits zwei von den drei Mannussöhnen mit identischen Namen und in den zu erwartenden Gegenden, den einen davon sehr deutlich als Völkerstammvater. Es ist dies der in angelsächsischen Quellen erwähnte Ing, der Yngvi der altnordischen Quellen, ein Gott, der laut angelsächsischem Zeugnis zuerst bei den „Ostdänen“ gesehen ward und von da, sein Wagen hinter ihm, ostwärts über die See davonzog – also wohl nach Schweden, und hier, in Upsala, kennt ihn die nordische Überlieferung als göttlichen Urahn (von dessen Göttlichkeit auch die Gleichsetzung mit Frey zeugt) des nach ihm benannten uralten Königsgeschlechts der Ynglinge, von dem ein Zweig früh nach Norwegen übersiedelte und die Einheitsdynastie des Harald Schönhaar begründete; aus dem Sprachgebrauch alter Skalden geht aber hervor, daß Yngvi auch als Stammvater der Völker galt, der Schweden sowohl als der Norweger, welche beide als Volk oder Nachkommenschaft Yngvis auftreten, mithin als „Ingvaeonen“, wozu ihre geographische Stellung, „zunächst dem Ozean“, aufs beste paßt. Der Stammvater der „Herminonen“ überliefert uns der Geschichtsschreiber Widukind von Corvei, indem er das Siegesfest seiner Landsleute, der Sachsen, nach dem Siege über die Thüringer am 1. Oktober 530 bei Scheidungen an der Unstrut beschreibt: die Sachsen opferten ihrem Gotte „Hirmin“ und errichteten ihm eine Säule, eine sogenannte Irminsul, „Irmins Säule“. Ein anderer Mönch, Rudolf von Fulda, der auch von einer Irminsul berichtet, erklärt dieses Heiligtum als „Weltsäule, die das All trägt“.2 Einen solchen Glauben hatten auch die Lappen, die ihren vorchristlichen Götterdienst von den Nordgermanen entlehnt haben. Sie opferten im Herbst ihrem Himmelsgott (dem entlehnten nordischen Frey) einen Ochsen und errichteten ihm eine nach ihm (Maylmen) benannte Säule (Maylmen-Säule), mit der er die Welt stützen sollte, damit sie nicht einstürzte. Dem lappischen Maylmen gleicht der sächsisch-thüringische Irmin, dem ebenfalls im Herbst geopfert und eine nach ihm benannte Säule errichtet wird, die die Welt tragen soll. Dem Irmin und der Irminsäule in Mitteldeutschland entsprachen „am Ozean“, bei den Nordgermanen, Yngvi und seine Yngvisäule, und Yngvi oder Frey mit seiner Säule ist zu den Lappen gewandert.3 ![]() Widukind von Corvey
Auch für Irmins Stammvaterschaft haben wir Zeugnisse, wenn auch nur mittelbare, nämlich eine kleine Anzahl altgermanischer Wörter, die mit irmin- zusammengesetzt sind, und in denen dieses Element etwa so viel wie „allgemein“ oder „groß“ bedeutet, z. B. althochdeutsch irmindeot (von deot „Volk“) „das ganze, große Volk“, altnordisch jörmungrund „das ganze, weite Land da unten“. Diese Bildungen sind schwerlich anders zu erklären als so, daß sie den Namen des Gottes enthalten und ursprünglich bedeutet haben „Irmins Volk“, „Irmins Land“. Da die Herminonen kein Volk, sondern eine Völkergruppe waren, so war der nebensinn „allgemein, weit“ von selbst gegeben. Er mußte zum alleinigen Sinn werden, als Irmin in Vergessenheit geriet, und da, wohin das Wort kam ohne den Gott (im Norden). Die Göttlichkeit der Stammväter stimmt zu der Göttlichkeit des Urahns, und der Name „Mannus“ widerspricht nicht, er kann den Gott bezeichnen, der als erster des Geschlechtes volle Menschlichkeit – Menschengestalt, normale Zeugungskraft – besaß, im Gegensatz zu dem wundersam unmenschlichen Vater, der aus der Erde, also aus Erde oder Stein ist und seinen Sohn hervorbringt so wie die Erde ihn, nämlich allein. Dieses erdentstammte Geschlecht ist als ein aufsteigendes gedacht. Die dritte Generation besteht aus göttlichen Herrschern, die die Welt stützen und von Tausenden als Lebensquell verehrt werden. Auch diese aufsteigende Linie kehrt deutlich wieder in der wichtigeren der beiden germanischen Gesamtparallelen, der altnordischen Theogonie: aus dem Gestein am Abhang der urzeitlichen Schlucht Ginnungagap leckte die Kuh Audhumla den Buri (d. i. „Bauer“), von diesem stammte Borr (d.i. „Sohn“), und Borr erzeugte mit der Riesin Bestla die drei Götter Odin, Wili und We.4 Die Namen der ersten beiden Glieder des Stammbaumes sind sinnreich erfunden – der Bauer steht wirklich bei den Germanen am Anfang! -, aber sie sind gewiß erst ein späterer Ersatz für die Namen, die Tacitus mitteilt. Odin ist, wie Zeus, der Vater der Menschen, und er heißt auch Jörmunr, d. i. Irmin, vermutlich, weil er in die Rolle dieses als Stammvater und als Enkel des erdentstammten Urgottes eingetreten ist. Auch Wili („Wille“ oder „Freude“) und We („Heilig“), von denen wir sonst nichts wissen, ersetzen die älteren Namen, und Yngvi bedurfte eines Ersatzes, weil er (Frey) sonst als Odins Sohn galt. ![]() Audhumbla
Trotz diesen Umgestaltungen ist die nordische Theogonie ein sprechendes Beispiel für die Altertümlichkeit der isländischen Überlieferung. Denn die Verse, von denen sie abstammt, waren schon zu Tacitus‘, wahrscheinlich auch schon zu des Timagenes Zeit alt, also lange vor Beginn unserer Ära entstanden. Ein so hohes Alter erfordert auch der Inhalt. Denn schon, als Plinius schrieb, galt die Dreiteilung der Germanen nicht mehr. Dieser Schriftsteller spricht von fünf Gruppen innerhalb der Gesamtnation, den drei theogonischen und zwei andern. Tacitus weiß von Germanenstämmen, die, ohne zu einer der drei theogonischen Gruppen zu gehören, auch ihrerseits Anspruch erhoben auf die Abstammung von Twisto. Die Nation war also bedeutend gewachsen, seit jene Dreiteilung gegolten hatte. Das bedeutet, daß seit ihrer Geltung Jahrhunderte vergangen waren. Die Twisto-Ethnogonie war ein Stück Altertum geworden, eine ehrwürdige Erinnerung an eine Zeit, wo die Nation noch kleiner war und auf engerem Raume beisammensaß. Dieses Ergebnis stimmt damit überein, daß das taciteische Germanien sich auf anderem Wege als erheblich erweitert, als in einen inneren und einen äußeren Kreis zerfallend uns erwiesen hat. Der gute Kopf, der die Twisto-Ethnogonie erfand, hat nichts getan, als – vielleicht angelehnt an ein auswärtiges Vorbild (die Skythen hatten nach Herodot eine ähnliche Ursprungssage) – gegebene Kultus- und Glaubensbestände zu einem runden Ganzen zu vereinigen. Germanien, das er überblickte und das ihm und anderen als Einheit bewußt war, zerfiel in drei Kultbezirke, die einander entsprechende Obergötter verehrten. Die Ideen der Erdgeborenheit, der Götterentstammtheit und merkwürdigerweise auch die des Aufstieges eines Geschlechts lagen in der Luft. Ebenso die Dreizahl mit Hauptgewicht am Ende als Prinzip des Aufbaus. Was so entstand, war ein Werk altertümlichsten Geistes und Gepräges, das früheste Denkmal, wie der stabreimenden Dichtkunst – die Namen staben nach bekannten Mustern -, so des nationalen Bewußtseins des Germanentums. Anmerkungen:1 Nämlich die Göttergenealogie von Búri, Borr, Bestla, Odin, Vili und Vé in der Snorra Edda (herausgegeben von Finnur Jónsson: Edda Snorra Sturlusonar, København 1931, S. 13 f.) und die sagenhafte Urgeschichte der Insel Gotland von den drei Söhnen der Hafpi und der Huitastierna in der Gutasaga (Hugo Pipping, Gutalag och Gutasaga, Køpenhavn 1905 bis 1907, S. 62).2 universalis columna quasi sustinens omnia. 3 Über weitere Irminsulsäulen vergleiche man meine kleine Schrift „Kriegskunst und Feldherrntum bei den Germanen“ (Brehm-Verlag, Charlottenburg 1934, Heft 8 der Reihe „Volk und Wissen“), sowie Dr. Wilhelm Müller, „Die Irminsäulen bei Altenbeken und Dorf Irmensäul bei Hildesheim, Richtweiser der Römerkämpfe“, in: Germanien, Monatshefte für Vorgeschichte, Verlag von F. K. Koehler, Leipzig 1934, Heft 5 (Mai), S.131-135. Siehe auch Gustav Neckel, Irmin, in der Festschrift für Theodor Siebs, M. u. H. Marcus, Breslau 1933, S. 1-9. 4 Siehe den Quellennachweis in Anmerkung 1. |
Gruß an die Ahnen
TA KI