Viele Schulabgänger nehmen nach dem Abitur eine Auszeit. Auch, weil sie nicht wissen, wofür sie sich entscheiden sollen. Die Eltern machen alles nur schlimmer. Für andere ist das ein Luxusproblem.

Ein Freitagabend im Hochsommer. Die Absolventen der Walter Gropius Schule im Berliner Stadtteil Neukölln haben sich in den „Tegeler Seeterrassen“ versammelt, um ihr Abitur zu feiern. Die Stimmung ist ausgelassen, die jungen Frauen tragen spektakuläre Abendkleider, die jungen Männer Anzüge, manche haben Fliegen umgebunden.
Eltern, Verwandte und Freunde jubeln, als die Zeugnisse überreicht werden und die Lehrerinnen und Lehrer für jeden einen freundlichen Satz, eine persönliche Bemerkung finden. Ein Profi-Fotograf arrangiert das Gruppenfoto, See im Hintergrund, Mädels in die Mitte, kleine Herren nach vorne, große nach hinten, zack, zack! Sie lachen und lassen sich gern herumkommandieren. Sie fühlen sich stark, mutig, leicht. Die Welt steht ihnen offen, die Zukunft kann beginnen. Daran glauben sie an diesem Abend.
Doch nicht alle jungen Leute, die in diesen Tagen ihre Hochschulreife feiern, blicken so unbeschwert nach vorn. Der Druck, das richtige Studienfach, die richtige Ausbildung zu wählen, ist enorm – und hat meist lange vor dem Abitur begonnen. Mehr als 42 Prozent der Abiturienten hatten nach einer Studie des Hochschul-Informations-Systems (HIS) von 2010 das Gefühl, die Menge der Berufsmöglichkeiten nicht überschauen zu können.
Und das Institut für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg ermittelte 2013 gewaltigen Orientierungsbedarf bei angehenden Abiturienten. Viele wirkten geradezu erschöpft – und sorgenvoll. Denn sie wissen, in der Leistungsgesellschaft wird jeder für seinen Erfolg oder Misserfolg selbst verantwortlich gemacht. Die unendlichen Möglichkeiten werden da eher als Last denn als Freiheit empfunden.
„Ihr habt alle Chancen der Welt“
So erlebte es jedenfalls Ronja, 20, aus Lübeck. Mitten in den Abiturprüfungen vor drei Jahren schrie sie plötzlich ihre Mutter, eine Sozialpädagogin, an: „Hör endlich auf zu sagen‘ ihr habt alle Chancen der Welt! Das hilft mir nicht! Was kann ich denn eigentlich?“ Sie fuhr dann erst mal durch die USA und Südamerika, jobbte in einer Espressobar. Jetzt macht sie eine Ausbildung als Altenpflegerin.
Oder Markus, 18, aus Berlin. Er hatte sich nach dem Abitur vor einem Jahr gleich ins Studium gestürzt. Jetzt sitzt seine Mutter in einer Studienberatung, die die Humboldt-Universität Berlin für Eltern anbietet. Keine Kuriosität, sondern in Zeiten, in denen bereits 16- und 17-Jährige Abitur machen, der Regelfall.
Markus‘ Mutter scheint froh, sich endlich mal aussprechen zu können, obwohl dies eigentlich keine Selbsthilfegruppe ist, sondern eine nüchterne Informationsveranstaltung. „Total zusammengebrochen“ sei ihr Sohn, erzählt die 45-Jährige, er liege nur noch auf der Couch, verlasse das Haus nicht, habe den Lebensmut verloren. Ein Mathematikstudium hatte er angefangen, war damit nicht zurechtgekommen, hatte immer mehr gearbeitet, war vereinsamt, zuletzt verzweifelt. Sie will ihm helfen, eine neue Perspektive zu finden.
Geschichten wie diese bestätigen, wovon Jochen Ley ohnehin überzeugt ist: den eigenen Weg zu finden, braucht Zeit. Der Studienberater und seine Kollegen versuchen in den Gesprächen zu vermitteln, dass Scheitern kein Drama ist. „Irrwege, Missverständnisse gehören zum Leben dazu. Es ist überhaupt kein Problem, ein falsches Studienfach aufzugeben und mit etwas Neuem zu beginnen“, sagt Ley.
Die Kinder der Angst gehen zum Psychotherapeuten
Doch zu einer derart gelassenen Haltung zu finden, ist für Eltern wie Kinder offenbar schwierig in einer Zeit, in der eine allgemeine Beschleunigungsideologie herrscht, in der Schul- und Studienzeiten verkürzt werden, ein Hochschulabschluss als einzig wahre Option gilt und man mitunter den Eindruck bekommt, schon Grundschüler müssten sich auf die Konkurrenz am Weltarbeitsmarkt vorbereiten.
„Gesellschaft der Angst“ hat der Soziologe Heinz Bude einen Essay zum Seelenzustand einer mittleren Generation genannt, die getrieben wird von der Angst, abgehängt zu werden, Chancen zu vertun. In einer Berliner Altbauwohnung mit Parkettboden und hohen Fenstern sitzen die Kinder der Angst. Sie werden in der psychotherapeutischen Praxis behandelt, weil sie nicht mehr schlafen können. Weil sie sich vor jeder Klausur die Unterarme aufritzen. Weil sie von dem Wahn besessen sind, man könne – und solle – von Wasser und drei Trockenfrüchten am Tag leben. Weil sie sich für wertlos halten. Weil sie, das sind eher die Jungen, „aggressive Durchbrüche“ haben, vulgo: ausrasten.
„Wir leben in einem Zeitgeist, der den jungen Leuten vermittelt: Wenn du nicht allen Ansprüchen hundertprozentig gerecht wirst, wirst du scheitern“, sagt die Psychotherapeutin, die hier praktiziert. „Das ist eine harte Botschaft für Kinder.“ Die Schule sei nicht immer hilfreich, findet sie, aber der Leistungsdruck, die elementare Verunsicherung komme vor allem von zu Hause.
„Das unlösbare Problem ist dabei dies: Unsere Mittelschichteltern wünschen sich ein rebellisches angepasstes Kind,“ sagt die Kinder- und Jugendpsychologin, die ihren Namen aus einem überraschenden Grund nicht öffentlich genannt wissen möchte: „Um Gottes willen keine Werbung!“ Ihre Sprechstunden sind ohnehin überlaufen, sie macht Termine bis in die Abendstunden, die normale Wartezeit für ein Erstgespräch liegt bei mehreren Monaten.
Vielfalt bedeutet Überforderung
Milieus und Familienstrukturen, die Lebenswege vorgeben, verschwinden zusehends. Doch was tritt an die Stelle? Was soll ein junger Mensch überhaupt können wollen angesichts von 17.500 Studiengängen, die zur Auswahl stehen? Auch die Eltern scheinen sich in der Studienberatung der Humboldt-Universität vor allem konkrete Informationen darüber zu wünschen, wie die vielen Berufsbilder eigentlich genau aussehen. Selbst Ausbildungsmessen bieten offenbar diese Konkretisierung nicht immer in ausreichendem Maße. Vielfalt bedeutet Überforderung.
„Viele würden wohl sagen, ich mache nix“, sagt Linus, 21. Er sitzt in einem Café in Berlin-Kreuzberg. Bei schönem Sommerwetter lässt sich hier die Gentrifizierung des Stadtteils gut beobachten. Letzte Eckkneipen ziehen aus, Frozen-Yoghurt-Läden ein. Die Lokale sind voller Kreativer, die irgendetwas am Laptop tippen. Die Bürgersteige sind voller Touristen. „Und die Mieten kann sich kein Mensch mehr leisten“, sagt Linus. Er lebt gern hier, eine eigene Wohnung könnte er sich allerdings nicht leisten.
Seit dem Abitur vor drei Jahren hat er im Supermarkt gearbeitet, auf dem Bau, bei einer Immobilienfirma, in einem Hostel und auf einer Farm in Australien. Also eigentlich nicht „nix“: „Meine Eltern sind nicht glücklich. Sie wollen, dass ich studiere, wenigstens eine Ausbildung mache.“ Eine Zufallsbekanntschaft, es könnte ein Mädchen gewesen sein, hat zu ihm gesagt: „Du bist ein Verlierer der Gesellschaft.“
Linus hat eine sehr relaxte Aura, aber der Satz hat ihn getroffen, keine Frage. „Ich bin ganz bestimmt kein Verlierer“, sagt er, „aber irgendwann, wenn alle das sagen, fängst du selbst an, es zu glauben.“ Linus ist, wie die meisten seiner Generation, ohne parteipolitische Bindung, aber er verortet sich eindeutig als links. Und er begründet sein vermeintliches „Nichtstun“ politisch: „Sie nehmen den Schülern ein Jahr Zeit zum Lernen weg“, sagt er, „damit wir schneller studieren, schneller arbeiten, schneller Steuern zahlen, mit 70 Jahren in Rente gehen.“ Sein „Nichtstun“ ist auch eine Reaktion darauf.
Auf der Suche nach einer Alternative
Ist es falsch, wenn man sich sein Leben anders vorstellt? Wenn man herausfinden möchte, wer man wirklich ist, was man wirklich will? Die Therapeutin, der Soziologe, der Studienberater würden alle sagen: Nein, genau richtig. Dass die Eltern sich trotzdem sorgen, kann man aber auch verstehen. „Irgendwie wollte ich mich immer weniger festlegen, je mehr meine Eltern drängelten“, sagt Linus. Dass es ihm Freude macht, mit den Händen zu arbeiten, auch bis zur Erschöpfung, hat er gelernt in den drei Jahren. Nach Australien würde er gern zurück. Aber er fühle auch, dass er wieder Lust habe, seinen Kopf anzustrengen.
Und dann sagt er noch, seine Eltern seien in der „wilden Zeit“ nach Berlin, nach Kreuzberg gekommen, als es dort Hausbesetzungen gab und es allen bürgerlichen Leuten zu dreckig war: „Diese Zeit hätte ich auch gern erlebt.“
Vielleicht läuft da ja neben dem Leistungsdruck und dem Zwang, sich in all der Vielfalt richtig zu entscheiden, noch etwas anderes schief? Vielleicht fehlt den jungen Leuten inzwischen einfach die Vorstellung davon, dass Lebensverhältnisse politisch gestaltbar sind, dass die vermeintliche Alternativlosigkeit nur eine Konstruktion ist? Linus ist auf der Suche nach einer Alternative, im Moment hat er einen Weg gewählt, der „weniger“ zum Ziel hat: weniger Stress, weniger Geld, weniger Status. Das ist allerdings nur dann eine attraktive Vorstellung, wenn es von vielem zu viel gibt.
„Eine Auszeit können sich nur wenige Familien leisten“
Die Neuköllner Abiturienten haben andere Vorstellungen von ihrer Zukunft. Schlicht, weil sie müssen. Kaum jemand nimmt eine Auszeit nach dem Abitur oder hat noch keine konkreten Pläne. „Das könnten sich hier nur die wenigsten Familien leisten“, sagt Schulleiter Gerald Miebs. Er ist, wie die anderen Lehrkräfte, die an diesem Abend mit den Schülern feiern, stolz auf die jungen Leute. Sie sind auf einem guten Weg, Berufsvorbereitung wird an der Schule groß geschrieben und funktioniert ganz offenbar.
Nilojan, 19, will Raumfahrttechnik studieren, Robert, 20, Theaterwissenschaften, Burak, 20, Betriebswirtschaftslehre, Tugay, 19, Chemie, Berkan, 19, Elektrotechnik, Zehra, 19 Kriminalistik oder Sozialpädagogik und Dennis, 21, ruft begeistert: „Ich will diese Frau heiraten!“ und umarmt seine Freundin; weil das allein noch kein Plan ist, will er auch Wirtschaftsrecht studieren. Mehmet, 19, spielt Fußball bei Hertha 03 und hofft auf ein Fußballstipendium in den USA; Malath, 21, will Lehrerin werden. Viele von ihnen haben als erste der gesamten Familie das Abitur gemacht. Für die Bildungsbürger von morgen kann die Welt gar nicht genug Chancen bereithalten.
Quelle:http://www.welt.de/vermischtes/article143660614/Nach-dem-Abitur-wartet-nur-die-Orientierungslosigkeit.html
Gruß an die Abiturienten
TA KI